Zu den altbekannten Sorgen sind neue hinzugekommen Die COVID-19-Pandemie habe generell für eine enorme Zunahme der Kontaktaufnahmen und auch für eine deutliche Ver- längerung der Gesprächsdauer gesorgt. Neben den oben genannten thematischen „Dauerbrennern“ gehe es heute auch um Zukunfts- ängste, Sorgen rund um den Job, um Isolation, den Krieg in der Ukraine, zunehmend um die Religion oder Fragen rund um die psychische Gesundheit selbst. Herausforderungen im Zusammen- hang mit der Migration würden hingegen wohl meist innerhalb der jeweiligen Community besprochen. In den letzten Jahren beson- ders angestiegen sei die Befassung mit dem Oberbegriff „Suizid“, was allerdings meist nicht mit der tatsächlich ins Auge gefassten Handlung, sondern wohl mehr mit persönlicher Überforderung in Verbindung stehe. Die Frage, ob die Menschen heute einfach weniger ertragen können als vorherige Generationen, stellt sich hin und wieder auch den Rat-auf-Draht-Beratern. Oliver Bayers Antwort darauf: „In der Gesellschaft hat sich viel verändert, wofür nicht zuletzt die Sozialen Medien gesorgt haben. Viele Kids befassen sich seither auch intensiv mit dem ,body shaming‘, dem Selbstbild oder dem Selbstwertgefühl, wofür im Web oft recht zweifelhafte Vergleiche geboten werden. Ein weiteres Problem ist ,Sextortion‘, eine Form der Erpressung, bei der dem Opfer mit der Veröffentlichung von Nacktfotos oder -videos gedroht wird, falls keine Zahlung oder eine andere ,Leistung‘ erfolgt. Es gilt somit, die Kinder und Jugendlichen dort abzuholen, wo sie viel Zeit verbringen – eben im Web. Unsere Tipps und Lösungsvorschläge im Chat, etwa wie ein Gespräch mit den Eltern optimal gestartet werden kann, setzen genau dort an.“ Auch besonders Verstörendes ströme heute viel öfter und schneller auf die Menschen ein. Als Beispiele dafür nennt Bayer Verschwörungstheorien, die Gewaltvideos des Islamischen Staates (IS) und die „Fake“-Diagnosen, die für eine gewisse Zeit besonders häufig auf TikTok und Co. aufgetaucht waren. In letzteren Videos werden einige wenige Krankheitssymptome zur Auswahl gestellt, die – nach erfolgter Zustimmung oder Verneinung per Mausklick – dem User postwendend eine „Diagnose“ liefern. Die dazu passen- den Ratschläge von „Rat auf Draht“ lauten: Hinterfrage die Quelle! Wer könnte von dieser Art der „Diagnose“ profitieren? Holʼ Dir fun- dierte Beratung in Deiner Region! Oliver Bayers Resümee: „Sehr viele Anrufe betreffen psychi- sche Belastungen bzw. die psychische Gesundheit. Zugleich ist der Wissensstand unserer Klienten über die in Österreich verfügbaren Angebote noch recht gering, und was zum Beispiel der Psychiater, was die Psychologin genau machen, ist für viele ein Rätsel. Zurzeit bereiten wir dazu einen großen Artikel auf unserer Website vor. Sehr erfreulich ist, dass die Stigmatisierung psychischer Erkran- kungen durch die Gesellschaft im Laufe der Jahre stark abgenom- men hat und auch die Kids immer öfter bereit sind, sich professio- nelle Hilfe zu holen.“ Birgit Satke, die Leiterin von „Rat auf Draht“, untermauert diese Angaben durch folgende Zahlen: „In den ersten neun Monaten des Jahres 2024 wurden von uns 4.687 Beratungsgespräche zum Thema psychische Gesundheit geführt. Das entspricht einem Plus von 1,21 Prozent im Vergleich zum Vorjahreszeitraum. Nach den Anfragen in Sachen psychosoziale Versorgung (1.860) und Suizidalität (802) rangierten jene zum selbstverletzenden Verhalten (518) auf Platz drei. Darauf folgten Depressionen, Ess-, Angst- und Zwangsstörun- gen, Traumata und Schlafstörungen.“ Kein Absetzen der Medikamente ohne vorherige Rücksprache mit dem Arzt In jüngster Zeit war dem Rat-auf-Draht-Team die große Unwis- senheit und Desinformation der Klienten beim Umgang mit Psy- chopharmaka aufgefallen, die ja fallweise zur Behandlung ent- LIFE SCIENCES chemiereport.at AustrianLifeSciences 2024.7 41 sprechender Erkrankungen verschrieben werden. Laut Birgit Satke berichteten diese durchaus häufig, dass sie verschriebene Medikamente ohne vorherige ärztliche Konsultation abrupt abge- setzt hatten. Als Gründe dafür seien vor allem die Ängste vor Abhängigkeit, Nebenwirkungen und Persönlichkeitsveränderung genannt worden. Christian Kienbacher, Facharzt für Kinder- und Jugendpsychiatrie und Leiter des Ambulatoriums für Kinder- und Jugendpsychiatrie von SOS-Kinderdorf in Wien-Floridsdorf berichtet Ähnliches. Er rät Kindern, Jugendlichen, aber auch Erwachsenen: „Ver- schriebene Psychopharmaka niemals ohne ärztliche Absprache absetzen. Dies hilft, Rückfälle zu vermeiden. Ein zu rasches Abset- zen kann zudem Auswirkungen auf den Körper haben.“ Ein Psychopharmakon wird niemals das erste Mittel sein Beide Fachleute nehmen das Beobachtete sehr ernst und wol- len folglich die Aufklärungsarbeit intensivieren. Wichtig sei es, zuallererst zu vermitteln, dass die Einnahme von Psychophar- maka niemals alleine, sondern stets im Rahmen einer Kombina- tion verschiedener Interventionen verordnet wird. Kienbacher: „Gerade bei Jugendlichen ist dabei genau darauf zu achten, ob die Symptomatik so ausgeprägt ist, sprich eine Depression so schwer, die Aufmerksamkeitsdefizit- bzw. Hyperaktivitätsstörung ADHS so stark, dass andere Mittel wie eine Therapie alleine nicht mehr ausreichen (…). Eine Medikation ist niemals das erste Mittel.“ Beide Experten erinnern weiters daran, dass der Großteil der Psychopharmaka rund drei bis vier Wochen eingenommen wer- den muss, bevor sich eine Wirkung zeigt. „Es ist ratsam, immer mit einer geringen Dosis zu beginnen, auf Nebenwirkungen zu achten und sich langsam der Zieldosis anzunähern“, so die Emp- fehlung des Kinder- und Jugendpsychiaters. Von Vorteil sei es auch, den Start der Einnahme der Medikamente auf ein Wochen- ende zu legen, sodass die Eltern dabei sein können. Von einem Behandlungsstart am Montagmorgen vor dem Schulbeginn rät Kienbacher jedenfalls ab. Der Großteil der Präparate, die in der Kinder- und Jugend- psychiatrie zum Einsatz kommen, ist seit zwanzig bis dreißig Jahren auf dem Markt, deren Wirkung durch unabhängige Stu- dien ist belegt. Christian Kienbacher hat bereits das rund vierwö- chige Aufdosieren bis zum Eintritt der vollen Wirkung erwähnt: „Dadurch ist auch kein Suchtpotenzial gegeben. Einzig die Benzo- diazepine können abhängig machen. Diese werden Kindern und Jugendlichen aber selten bis gar nicht verschrieben.“ Auch die lebenslange Einnahme von Psychopharmaka sei in den meisten Fällen nicht nötig. Es gäbe zwar chronische Fälle, aber meist sei eine Therapie nach einiger Zeit auch wieder erle- digt. Zudem werden die Patienten ja älter und haben bereits Stra- tegien entwickelt, um etwa ADHS anders zu begegnen. Die intensivierte Aufklärungsarbeit in Sachen Psychopharmaka wird „Rat auf Draht“ auf allen verfügbaren „Kanälen“ betreiben. „Besondere Bedeutung dabei kommt klarerweise den Sozialen Medien zu, wobei wir vor allem auf Kurzfilme und Behind-the- Scene-Beiträge setzen werden“, so Oliver Bayer. Obgleich TikTok und Co. durchaus positive Aspekte aufwiesen, etwa den Peer-to- Peer-Erfahrungsaustausch, seien auch die negativen Effekte nicht von der Hand zu weisen. Beispielsweise könnte „Rat auf Draht“ deren Suchtpotenzial künftig stärker thematisieren. Um Verständnis ersucht Oliver Bayer, wenn es einmal zu etwas längeren Wartezeiten auf der Hotline 147 kommt: „Unsere Klienten sollten bedenken, dass in der Regel zwei Experten ihren Dienst versehen und dabei im Schnitt täglich bis zu 150 Beratun- gen durchführen. Die Fachleute gehen zum Teil überdies Haupt- tätigkeiten nach, weshalb, je nach Thema, fallweise auf bestimmte Anwesenheitstage verwiesen werden muss.