Drug Delivery: "Fest in der Schleimhaut verankert"

Andreas Bernkop-Schnürch, Leiter des Lehrstuhls Pharmazeutische Technologie an der Leopold-Franzens-Uni Innsbruck, hat eine neue Generation schleimhauthaftender Trägermaterialien für Arzneiwirkstoffe entwickelt. Er wurde dafür mit dem diesjährigen Dr. Wolfgang Houska-Preis ausgezeichnet, einem der höchstdotierten Forschungspreise Österreichs. Im Gespräch mit Carola Hanisch Drug Delivery: "Fest in der Schleimhaut verankert" <% image name="Bernkop" %><p> <i>Warum verweilen viele Wirkstoff-Abgabesysteme nicht lange genug an Schleimhäuten?</i> Die meisten dieser mucoadhesiven Substanzen haften über vergleichsweise schwache Wechselwirkungen wie Wasserstoffbrücken, ionische Anziehungskräfte oder weil sich die Molekülketten miteinander verhaken. Aber sie gehen keine festen chemischen Bindungen mit den Schleimhautmolekülen ein. Sie halten den Wirkstoff nicht lange genug am Zielort fest, um als effektiver „Pharma-Kleber“ zu wirken. <i>Inwiefern ist dies bei den Thiomeren anders?</i> Dazu muss man zunächst wissen, wie der natürliche Schleim, der Mucus, aufgebaut wird. Die Schleimhautzellen produzieren Glykoproteine, die Mucine, die freie Schwefelwasserstoffgruppen enthalten. Diese sogenannten Thiolgruppen reagieren unter den oxidierenden Bedingungen an der Zelloberfläche miteinander und gehen stabile Elektronenpaarbindungen ein, die Disulfidbrücken. Die Natur verwendet Disulfidbindungen sehr häufig, um Proteine zu stabilisieren. Die Mucine verknüpfen sich zu einem Polymernetz, quellen auf und bilden ein Gel – den Mucus. Thiomere sind nun so konstruiert, dass sie zunächst in die Schleimschicht eindringen und sich dann dort über denselben Mechanismus verankern. Sie verfügen nämlich ihrerseits über freie Thiolgruppen, können also ebenfalls Disulfidbrücken mit den Mucinen und untereinander ausbilden. Sie stellen also eine Art künstlichen Schleim dar. Auf einem ähnlichen Prozess basieren übrigens auch die anhaftenden Eigenschaften vieler Klebstoffe: erst Eindringen in eine Oberflächenstruktur gefolgt von einem anschließenden Stabilisierungsprozess des Klebstoffes. <i>Also sind Thiomere Arzneiträgerstoffe mit Thiolgruppen. Um was für Polymere handelt es sich und mit welchen Wirkstoffen werden sie beladen?</i> Am weitesten entwickelt sind Chitosane und Polyacrylate. Das sind seit vielen Jahren bewährte Wirkstoffabgabesysteme. Aber es gibt eine Vielzahl weiterer Polymere, die auch interessant sind. An diese Basispolymere hängen wir Seitenketten mit Thiolgruppen, zum Beispiel die Aminosäure Cystein, und verbessern dadurch die mucoadhesiven Eigenschaften: Eigentlich sehr einfach, aber in der Wirkung durchaus eindrucksvoll. Jedes Basispolymer kann mit einer Vielzahl von thiolisierten Seitenketten modifiziert werden – allein bei den Poylacrylaten haben wir schon 10 verschiedene entwickelt. Wir sind mit dieser Plattformtechnologie extrem flexibel und können alle möglichen Wirkstoffe in diese Träger einlagern. Das ist auch der Vorteil unserer Firma, Thiomatrix: wir sind nicht von einem Wirkstoff abhängig. <i>Außer der Firma Thiomatrix vermarktet auch MucoBiomer Ihre Thiomer-Technologie?</i> Ja, das stimmt. MucoBiomer verfügt über die Patentrechte für die Anwendungen im und am Auge und für Implantate. Sie ist eine 100%ige Tochter der Croma Pharma. Ich bin nicht mehr an der Firma beteiligt, sondern habe 2003 die Thiomatrix gegründet, die alle anderen Anwendungsgebiete vermarktet. <i>Haben Thiomere noch andere Vorteile?</i> Ja, die Bildung von Disulfidbrücken sorgt auch für die in situ quellenden Eigenschaften der Thiomere. Ich nenne Ihnen ein konkretes Beispiel: Die Nasenschleimhaut kann von einer Flüssigkeit, die Sie aufsprühen, nur 100 Mikroliter halten. Ein zähflüssiges Gel hingegen haftet besser und rinnt nicht so leicht wieder heraus. Allerdings kann man ein Gel nicht versprühen und daher erreicht es die tiefer gelegenen Teile der Nasenschleimhaut nicht, zum Beispiel die Nebenhöhlen. Die Thiomere vereinen die Vorteile beider Formulierungen. Sie sind im Ausgangszustand flüssig und lassen sich problemlos versprühen. Unter den oxidierenden Bedingungen an der Schleimhautoberfläche vernetzen sie sich, beginnen zu quellen und werden zähflüssig. Sie bilden also erst an Ort und Stelle ein stabiles Gel. Diese Eigenschaft ist auch für viele andere Anwendungsorte wichtig, zum Beispiel für die Vaginalschleimhaut oder die Augenschleimhaut. <i>Was passiert mit dem Thiomer, wenn es seinen Wirkstoff abgegeben hat? Wird es abgebaut?</i> Das kann man je nach Anwendungsort gestalten. Im Magen-Darm-Trakt zum Beispiel ist es sinnvoll, hochmolekulare, nicht biologisch abbaubare Thiomere zu verwenden. Die werden dann einfach, wenn sie ihre Aufgabe erfüllt haben, unverändert wieder ausgeschieden und sind somit toxikologisch sehr vorteilhaft. Ähnliches gilt für die Nasen- oder Vaginalschleimhaut. Die Lunge hingegen wäre für solche Substanzen eine Sackgasse – hier braucht man biologisch abbaubare Thiomere. <i>Wie gelangt denn nun der Wirkstoff von seinem Träger, dem Thiomer, ins Blut?</i> Dazu muss er erst die Epithelzellschicht überwinden. Auch dabei helfen die Thiomere mit, indem sie die so genannten tight junctions öffnen. Das sind Biomoleküle, die die Epithelzellen so fest miteinander verbinden, dass für viele Wirkstoffe kein Durchkommen ist. Die Thiomere öffnen ihnen gewissermaßen die Tür. Ein anderes Problem, vor allem im Magen-Darm-Trakt, sind proteinspaltende Enzyme. <i>Die bauen den Wirkstoff ab, bevor er überhaupt eine Chance hat, durch die Schleimhaut zu kommen?</i> Ja. Aber auch da sind Thiomere nützlich. Viele Enzyme sind in ihren Cofaktoren auf Zinkionen angewiesen. Und die Thiomere binden die Zinkionen und inhibieren dadurch die Enzyme. <i>Wie sieht es beispielsweise mit Cytostatika aus, die in die Zelle selbst aufgenommen werden müssen?</i> Da haben wir oft das Problem, dass die Zelle die Wirkstoffe als giftig erkennt und über spezielle Kanäle das „Giftmolekül“ wieder nach draußen pumpt. Nach unserer gängigen Arbeitshypothese, die aber auch schon durch verschiedene Studien gestützt wird, wandern Thiomere in diese Kanäle ein und bilden dort Disulfidbrücken. Sie blockieren auf diese Weise die Pumpe, die den Wirkstoff ansonsten nach draußen befördern würde. <i>Thiomere halten den Wirkstoff also nicht nur an der Schleimhaut fest, sondern tragen auch dazu bei, dass er aufgenommen wird. Wohin geht denn die Zukunft der Thiomere und ihrer Firma?</i> In der Firma geben dies natürlich unsere Auftraggeber vor. Wir sind mit zumindest der Hälfte aller weltweit agierenden Pharmakonzerne im Gespräch, auch mit Weltkonzernen im Kosmetikbereich. Da gibt es auch schon entsprechende Entwicklungen. Universitär und im Rahmen von EU-Projekten wollen wir die Technologie in Richtung Mikro- und Nanotechnologie weiter ausbauen. Winzige Teilchen haften noch besser auf der Schleimhaut als größere Trägersysteme. Ein großes Zukunftspotenzial sehen wir in der Gentherapie: Nanopartikuläre Thiomere könnten als nichtvirale Gentransfer-Systeme dienen. Das Konzept ist folgendes: In das Thiomerteilchen wird das zur Heilung benötigte Gen eingelagert. Die Thiomer-Nanopartikel sind so klein, dass sie von den Zellen über Endozytose aufgenommen werden können. Die Zelle stülpt ihre Membran einfach um das Partikel herum und verleibt es sich ein. In der Zelle herrschen nun reduzierenden Bedingungen, so dass die Disulfidbrücken des Thiomers gespalten werden – es zerfällt und das mit ihm eingeschleuste Gen wird genau dort freigesetzt, wo es gebraucht wird – in der Zelle. Dahinter steht die Hoffnung, nicht nur die Symptome, sondern die Ursache vieler Krankheiten zu behandeln. <small> <b>Nur Medikamente,</b> die per Spritze verabreicht werden, gelangen direkt in die Blutbahn. Alle anderen, nicht-invasiven Arzneien, müssen erst die Körperoberfläche durchdringen. Diese ist an vielen Stellen, etwa in Auge, Nase, Mund, Lunge, Magen und Darm mit Schleimhaut bedeckt. Um dieses Hindernis zu überwinden, müssen Medikamente möglichst lange an der Schleimhaut haften können. Thiomere lösen das Problem: Sie haften an Magen-, Darm- und anderen Körperoberflächen und geben dort die pharmazeutischen Wirkstoffe ab. </small>