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Das menschliche Genom ist seit ca. zehn Jahren durchsequenziert, doch hat sich Ernüchterung breitgemacht: Die Organisation des molekularen Geschehenes ist komplexer als angenommen. Erst die systembiologische Interpretation der Datenfülle beginnt etwas Licht in die Zusammenhänge zu bringen.
Wettbewerb belebt das Geschäft: Als Craig Venter 1998 verkündete, mit der von ihm gegründeten Firma Celera die vollständige Sequenzierung des menschlichen Genoms schneller und billiger bewerkstelligen zu wollen als das mit öffentlichen Geldern finanzierte Human-Genom-Projekt, bekam die Arbeit an dieser „molekularen Anatomie des Menschen“ eine neue Gangart. Angestachelt durch den unerwarteten Konkurrenten, mobilisierte auch das von Francis Collins geleitete interstaatliche Vorhaben alle verfügbaren Kräfte, um nicht Venter den „Sieg“ bei dem Wettlauf zu überlassen. Zwei Jahre früher als zunächst geplant veröffentlichten beide Gruppen 2001 nahezu zeitgleich die aus vielen Einzelexperimenten zusammengefügte Gesamtsequenz.
Die Begleitkommunikation des Human-Genom-Projekts war nie von besonderer Bescheidenheit geprägt: Eine neue Ära der Humanmedizin sollte da eingeleitet werden, hieß es, in der man nicht nur den zahlreichen Einzelgendefekten zu Leibe rücken, sondern auch gleich Krebs, Herz-Kreislauf- und Autoimmunerkrankungen, rheumatoide Arthritis und Diabetes besiegen werde – weil man deren genetische Ursachen kennen würde. Man begann, sich eine „personalisierte Medizin“ vorzustellen, in der Patienten ihrem individuellen Genom entsprechend eine individuelle Behandlung erfahren würden.
Mehr als Cricks Dogma erlaubt
Mehr als zehn Jahre später hat sich vieles von dieser Euphorie verflüchtigt. Das Human-Genom-Projekt gilt als Aufgipfelung eines reduktionistischen Ansatzes in der Biologie, der viele der geschürten Erwartungen nicht halten konnte. Das liegt auch an den Ergebnissen, die die Genetiker bei der Sequenzierung und Interpretation des Genoms ans Licht brachten. Zunächst schien es überraschend, dass sich in der Basensequenz der menschlichen Chromosome vieles befand, was man im herkömmlichen Sinne gar nicht als „Gene“ bezeichnen konnte (wenn man darunter jene Abschnitte versteht, die mittels des genetischen Codes für bestimmte Proteinsequenzen codieren). Von „Junk-DNA“ sprachen die Wissenschaftler nun und meinten jenen überwiegenden Teil des Erbmaterials, dessen Funktion man nicht erkennen konnte und gegenüber dem sich die zuordenbaren („annotierbaren“, wie die Wissenschaftler sagen) Gene wie Inseln im Ozean ausnahmen.
Zwar ist das letzte Wort in dieser Angelegenheit noch nicht gesprochen, doch eines scheint fix: Zahlreiche DNA-Abschnitte, denen man zunächst keine Bedeutung zuordnen konnte, entpuppten sich als funktionell in einem anderen Sinne als zunächst erwartet worden war. So fand man beispielsweise heraus, dass die Transkription (also die Übersetzung von DNA-Sequenzen in solche der RNA) durchaus nicht auf jene Abschnitte beschränkt ist, die Anweisungen zur Synthese von Proteinen enthielten. Das eröffnete das weite Feld der Erforschung der Ribonukleinsäuren (RNA), von denen man immer mehr Arten entdeckte (siehe Kasten). Die vielfältige Rolle, die die verschiedenen Typen von RNA im zellphysiologischen Geschehen spielen können, gibt einen deutlichen Hinweis darauf, dass die molekulare Welt der Lebensvorgänge nicht so einfach beschaffen ist, wie sich das die ersten Generationen an Molekularbiologen vorgestellt hatten. 1958 hatte Francis H. C. Crick das „zentrale Dogma“ der noch jungen Wissenschaft ausgegeben: Information wird von DNA zu RNA und weiter zu Proteinen weitergegeben und niemals in die andere Richtung. Alle Gene identifiziert zu haben (und das war es ja, was das Human-Genom-Projekt wollte), sollte das Leben also in seiner ganzen Vielfalt „lesbar“ machen.
Doch wenn es gar nicht so viele Gene gab, wie zunächst angenommen, wenn ein Gen eine Vielzahl an Funktionen wahrnehmen kann, wenn das Genom insgesamt komplizierter organisiert ist, sodass ganze Netzwerke an Regulationsmechanismen zum Tragen kommen, dann war mit der Annotation der Gene nicht so viel gewonnen, wie zuerst gedacht.
Dazu kommt, dass die Identifizierung codierender Abschnitte zwar automatisiert mithilfe der Software-Tools der Bioinformatik erfolgen kann, aber deswegen noch lange nicht geklärt ist, welche Aufgabe die Proteine haben, für die sie codieren. Zur strukturellen gesellte sich also die funktionelle Genomik: Welches Gen wird überhaupt in welchem Fall transkribiert (sodass dieselbe Erbinformation einmal eine Raupe und einmal einen Schmetterling hervorbringen kann)? Und welche Funktionen haben die Proteine dann im Regelwerk der Zelle und in der Kommunikation zwischen Zellen? Auch Proteine sind in hochkomplexen Netzwerken miteinander verschalten – eine Spielwiese, für die sich der Name „Proteomik“ eingebürgert hat.
Stimmen aus dem post-genomischen Zeitalter
In dieser Ernüchterung gegenüber dem, was man schon weiß, und dem Staunen über das, was man entdeckt, hat man begonnen vom „post-genomischen“ Zeitalter zu sprechen. Aus der Kenntnis der genetischen Ausstattung eines Patienten können Diabetes-Forscher noch nicht auf die Wahrscheinlichkeit schließen, mit der dieser erhöhte Zuckerwerte bekommen wird, wie Michael Roden, wissenschaftlicher Direktor des deutschen Diabetes-Zentrums in Düsseldorf, anlässlich eines Hintergrundgesprächs im vergangenen Jahr erläuterte. Es reiche auch nicht, Maschinen zu haben, die ein paar Millionen Basenpaare mehr sequenzieren können, um die personalisierte Medizin vorzubringen, wie Andreas Ruppert vom Genetics Research Center in München schon bei einer Podiumsdiskussion auf der Analytica 2010 bemerkte. Dazu müsse man vielmehr das Arsenal der Systembiologie bemühen, das uns erste Schritte in die komplexen Zusammenhänge ermögliche. Und Giulio Superti-Furga, Direktor des Wiener „Center of Molecular Medicine“, der gerne das Wort vom post-genomischen Zeitalter im Mund führt, erklärte im Mai 2011 anlässlich der Eröffnung der Ausstellung „Bio:Fiction“ im Naturhistorischen Museum, die reduktionistischen Ansätze seien nur erfolgreich, wenn man kleine Fragen stelle. In größeren Zusammenhängen schlage das fehl.
Gleichwohl ist die Rede von einem post-genomischen und keineswegs von einem anti-genomischen Zeitalter. Die Hochdurchsatz-Sequenzierung hat jene enorme Datenbasis geschaffen, die jetzt von Heerscharen an Bioinformatikern durchforstet wird; die den RNA- und Proteomik-Forschern als Grundlage dient; die hilft, erste Schneisen ins Dickicht der personalisierten Medizin zu schlagen, wenn Krankheiten in genetische Untergruppen unterteilt werden. Auf die genomische Information würde niemand verzichten wollen, die Systembiologie hat begonnen, sie zu interpretieren.