Menschen der Forschung: Karl Zojer im Gespräch mit Erich Halwax vom Institut für chemische Technologien und Analytik an der TU Wien. Über Algen als Knochenersatz, Geheimnisse in Zinnsärgen und dem Unterschied zwischen guter und schlechter Patina. Was die Röntgenbeugung zu leisten vermag<% image name="Erich_Halwax" %><p>
<small> Erich Halwax: „Die Kristallographie ist aus den Lehrplänen fast schon verschwunden – ein Jammer!“ </small>
<i>Auf dem Gebiet der porösen Materialien arbeiten Sie mit dem Kieferchirurgen Rolf Ewers vom AKH zusammen, der eine interessante Entdeckung gemacht hat. Was wird hier erforscht?</i>
Professor Ewers hat entdeckt, dass Algen – etwa aus dem Atlantik vor der Bretagne – eine dem menschlichen Knochen sehr ähnliche hochporöse und gleichzeitig mechanisch stabile Struktur aufweisen. Um sie als Kieferersatz einsetzen zu können, muss man die Algen jedoch kristallchemisch verändern – im Wesentlichen wird das Carbonat der Algen (der Calcit) durch Phosphat in Form von Apatit ersetzt. Das geschieht hydrothermal unter Beibehaltung der hohen Porosität der Algen und ist im Detail Inhalt eines Patentes von Ewers.
Meine Aufgabe war und ist es, Zwischen- und Endprodukte mittels Röntgenbeugung zu analysieren. Das ist die beste Methode zum Nachweis kristalliner Substanzen, auch von kleinsten Verunreinigungen bis in den Bereich um 0,1 %, sofern sie kristallin sind.
<i>Wie finden die modifizierten Algen dann ihre konkrete Anwendung in der Kiefer- bzw. Gesichtschirurgie?</i>
Das aus Algen hergestellte Knochenaufbaumaterial wird dem Patienten im Gesichts- und Kieferbereich implantiert. Das umliegende Gewebe macht aus dem Algenmaterial innerhalb weniger Monate gesunden Knochen.
<i>Eine interessante Entdeckung haben Sie auch in der Kapuzinergruft gemacht?</i>
Im Zuge der Restaurierung der Zinnsärge der Kapuzinergruft – gemeinsam mit der Universität für Angewandte Kunst – bekam ich eine Probe von einem Material zur Analyse, das auf der steinernen Bodenplatte unter dem Sarg gefunden wurde und das nachweislich aus dem Inneren des Sarges stammte. Der Befund aus der Röntgenbeugung war, dass die Probe kristallines NaNO<small>3</small> und KNO<small>3</small> enthält. NaNO<small>3</small> ist im Pökelsalz enthalten. Die Habsburger wussten also bereits im 17. Jahrhundert, wie sie ihre Toten konservieren können.
<i>Mit der Universität für Angewandten Kunst arbeiten Sie auch heute noch zusammen?</i>
Ja, diese Zusammenarbeit währt mittlerweile bereits seit 14 Jahren. Ein wichtiges Projekt war und ist die Untersuchung natürlicher Patina-Proben und von solchen, die durch künstliche Bewitterung von Kupferblechen hergestellten werden. Die Röntgenbeugung leistet hier unverzichtbare Dienste, weil sie problemlos zwischen den diversen kristallinen Kupfersulfaten unterscheidet, die sich bei Korrosion von Kupfer in saurem Regen (SO<small>3</small> + H<small>2</small>O) bilden können.
Die Denkmalschützer unterscheiden zwischen guter und schlechter Patina. Gute Patina besteht aus Brochantit oder Antlerit (das sind basische Cu-Sulfate mit relativ wenig Sulfat), die beide das Objekt – etwa ein Bronzedenkmal – vor weiterer Korrosion schützen. Wird in der Patina aber Chalcanthit (CuSO<small>4</small>.5H<small>2</small>O) nachgewiesen, muss die Patina im Zuge der Restaurierung entfernt werden: Chalcanthit ist aggressiv und frisst sich immer weiter in das befallene Objekt hinein.
<i>Sie wenden dabei häufig die so genannte Rietveld-Methode an. Was hat es damit auf sich?</i>
Nach der Messung einer polykristallinen Probe liegen die Beugungsdaten in digitaler Form vor – Intensitäten als Funktion des Beugungswinkels 2Theta. Gemessen wird üblicherweise in 2Theta-Schritten von 0,02 Grad, zum Beispiel von 2Theta = 5 bis 2Theta = 70 Grad Cu-Strahlung. Das gemessene Diffraktogramm besteht also hier aus 65 mal 50 = 3.250 Daten. Es enthält die Intensitäten der an der Probe gebeugten Röntgenstrahlen (Röntgenreflexe) über einem Untergrund neben Bereichen, die nur aus Untergrund bestehen.
Die Intensitäten der Röntgenreflexe hängen von den kristallinen Substanzen in der Probe ab, und zwar von deren Kristallstruktur und von deren Anteilen in der Probe. Kennt man alle in der Probe enthaltenen kristallinen Substanzen und kennt man ferner möglichst genau deren Kristallstrukturen, dann kann man die Intensitäten der Röntgenreflexe auch berechnen. Die bahnbrechende Idee Rietvelds bestand 1967 darin, das gesamte gemessene Diffraktogramm durch ein Modell zu simulieren, bei dem sinnvolle Annahmen auch über das Beugungsprofil eines einzelnen Reflexes (etwa eine Gauss-Funktion im Falle von Neutronenbeugung) und über den Untergrundverlauf zu machen waren. Die Anpassung des Modells an das gemessene Diffraktogramm erfolgt über ein Least-Squares-Verfahren.
Diese Rietveld-Anpassung liefert dem Chemiker wertvolle Daten, unter anderem die quantitative Zusammensetzung der Probe, die Gitterparameter der kristallinen Phasen und deren Kristallitgrößen. Heute gibt es sehr benutzerfreundliche kommerziell erhältliche Rietveld-Programme und die Phasenquantifizierung mit ihnen ist ein Vergnügen – vorausgesetzt, man hat die Probe qualitativ korrekt analysiert, was keinesfalls immer trivial ist.
<i>Sie beschäftigen sich auch sehr mit der Automatisierung von Analysenmethoden?</i>
Ich habe vor Jahren eine Methode ausgearbeitet und auch ein Computer-Programm dafür geschrieben, bei der das gemessene Diffraktogramm einer Probe simuliert wird – ausgehend von den ebenfalls gemessenen Diffraktogrammen der reinen Substanzen, die in der Probe enthalten sind. Im Vergleich damit ist die Rietveld-Methode zwar ungleich rechenaufwendiger, aber auch ungleich flexibler und leistungsfähiger. Ansonsten betreue ich die Datenbank für die Pulverdiffraktion. Es können jederzeit gemessene oder aus neuen Kristallstrukturen berechnete Diffraktogramme in die bestehende Datenbank aufgenommen werden. Das ist für Routineanalysen von Vorteil und für die Forschung manchmal unabdingbar.
<i>Sie sind natürlich auch in der Lehre tätig. Was bringen Sie den Studierenden bei?</i>
Die Grundzüge der Kristallographie und die Prinzipien der Röntgenbeugung an polykristallinen Proben sowie ihre Anwendungen in der qualitativen und quantitativen Phasenanalyse. Meine Lehrtätigkeit profitiert auch von der Zusammenarbeit mit ehemaligen Studenten, die heute in der Industrie tätig sind und denen ich bei der Lösung ihrer Probleme behilflich sein kann. Den Studierenden des ersten Studienabschnittes bringe ich die Grundzüge der Strukturaufklärung, demonstriert an einfachen anorganischen kristallinen Substanzen bei, also das, was die Pioniere der Röntgenkristallographie vor 90 Jahren gemacht haben, nur damals eben ohne Taschenrechner oder PC, sondern mit Logarithmentafeln.
<i>Was für einen Eindruck haben Sie von den heute Studierenden?</i>
Ich habe Studenten sowohl an der TU Wien als auch an der Universität für Angewandte Kunst. Bei den Studierenden von der Angewandten gefällt mir die Neugierde und die Begeisterung für mein Fach. Dass sie von mir auch etwas haben wollen, nämlich die Analyse ihrer Proben bei der Restaurierung von Kunstobjekten, liegt auch in meinem Interesse – ich lerne auch von ihnen. Bei den TU-Studenten, insbesondere bei denen des ersten Studienabschnittes, gibt es ein größeres Gefälle zwischen denen mit schneller Auffassung und denen, die langsamer sind. Mein Problem waren aber noch nie die Studenten. Mein Problem sind die Lehrpläne für die künftigen Chemiker, und in diesen Lehrplänen sehe ich die Kristallographie praktisch nicht mehr vertreten – ein Jammer.
<i>Was sagt ein Universitätslehrer zum Thema Gesamtschule?</i>
Ich bin offen für die Gesamtschule. Es kommt meines Erachtens langfristig ebenso darauf an, dass eine Gesellschaft ihre Bürger zu Toleranz erzieht wie darauf, dass sie Begabungen fördert.