Entflechtung und Neubeginn - Rückblick auf 10 Jahre Branchengeschehen

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Der Chemiepark Höchst ist nach wie vor ein vitaler Standort, das einstige Unternehmen gleichen Namens auf viele Nachfolgefirmen verteilt.

Der Chemiereport begleitet das Branchengeschehen in Chemie und Life Sciences seit 10 Jahren. Es war eine Zeit der Um- und Aufbrüche, die Unternehmenslandschaft in Chemie- und Pharma-Industrie hat sich ebenso gewandelt wie die regionalen Cluster-Strukturen in den Life Sciences. Einige  Schlaglichter auf ein bewegtes Jahrzehnt.

Als der Chemiereport Anfang 2002 zum ersten Mal erschien, befand sich die Chemieindustrie mitten im wohl größten weltweiten Flurbereinigungsprozess ihrer Geschichte. Einige wenige Notizen reichen aus, um an die damaligen Umwälzungen zu erinnern: 1999 war durch Fusion von Hoechst und Rhône-Poulenc ein neuer Konzern entstanden, 2001 fiel nach Zustimmung beider Hauptversammlungen der offizielle Startschuss unter dem Namen Aventis. Feinchemie- und Kunststoff-Sparten der beiden ehemaligen Chemie-Riesen waren in Rhodia, Clariant oder Celanese aufgegangen. Nach dem Verkauf der Agrochemie-Sparte an Bayer wurde aus Aventis ein ganz auf das Pharma-Geschäft fokussierter Konzern, der 2004 nach längerem Widerstand von Sanofi-Synthelábo übernommen wurde. 2001 hatte Dow Chemical Union Carbide übernommen und damit seine Stellung als eines der führenden global agierenden Chemieunternehmen ausgebaut. Bayers Aufgliederung in einzelne Teilkonzerne und der Spin-off des Chemie-Geschäfts als Lanxess standen noch bevor, in unserer zweiten Ausgabe im Frühjahr 2002 war erstmals von der Ankündigung der neuen Struktur zu lesen. Dass BASF Ciba übernehmen würde, stand damals noch in den Sternen.

Fokussieren und Konzentrieren waren die Zauberworte eines neuen Management-Denkens geworden, das auch in die Chemiebranche eingedrungen war. „Ein Großteil der Transaktionen zielt auf die Konzentration der beteiligten Chemiefirmen auf ihre Kerngeschäfte ab“, wurde schon in Ausgabe 2/2002 aus einem Branchenreport der Bank Austria zitiert. Unternehmen stießen Geschäftsfelder, die etwas abseits lagen, ab und setzten auf Akquisitionen, um die angestammten Bereiche zu vergrößern. Vielfach verloren ging dabei jene kleingewerbliche Landschaft an Chemie- und Pharmaunternehmen, die bis in die 1990er-Jahre gerade für Österreich typisch war. Am Beispiel der heimischen Lackhersteller blickten wir in Ausgabe 4/2009 auf diese Veränderungen zurück: „Lacke sind hochspezialisierte Produkte geworden, die immer höheren Anforderungen genügen müssen, die Umweltgesetzgebung hat stark in das Tätigkeitsgebiet der Lackhersteller eingegriffen. Den Sprung zur industriellen Produktion sind nicht alle Hersteller mitgegangen – viele davon gibt es heute nicht mehr.“

 

Umbrüche in der Pharmaindustrie

Unternehmen wie Bayer oder die Merck KGaA, die sowohl im Chemie- als auch im Pharma-Geschäft tätig sind, stellen heute Sonderfälle in der Marktlandschaft dar. Im vergangenen Jahrzehnt hat sich die Entflechtung der Unternehmensstrukturen beider Branchen weitgehend vervollständigt. Die unterschiedlichen Marktdynamiken und der hohe Grad an Regulierung des Marktzugangs, aber auch die enormen F&E-Aufwendungen am Arzneimittelsektor haben Konzernstrukturen entstehen lassen, die entsprechendes Gewicht in das jeweilige Geschäftsfeld legen können.

Zu dieser Entflechtung hat aber auch ein anderer Umstand beigetragen: Pharmaunternehmen sind in ihrer Forschungs- und Entwicklungsarbeit heute viel weniger Chemie-getrieben als noch vor 15 oder 20 Jahren. Anton Stütz, langjähriger Forschungsmanager bei Novartis in Österreich, resümierte im Chemiereport 3/2010 diese Umbrüche: „Es hat dramatische Veränderungen gegeben. Als ich in der Forschung begonnen habe, hat es die Molekularbiologie in der Pharmaindustrie praktisch noch nicht gegeben. Heute gibt es kein Projekt, das molekularbiologische Techniken nicht in irgendeiner Weise verwendet.“ Es war das letzte Interview, das auf dem Novartis-Campus in der Brunner Straße stattfand. Stütz, dessen kleine, aber überaus erfolgreiche Dermatologie-Gruppe als einzige F&E-Einheit in Österreich verblieb, zog bereits eine Woche später an den neuen Standort in der Muthgasse.

 

Bild: Biomin

 

Aufbrüche in den Life Sciences

Der Plural-Ausdruck „Life Sciences“ bezeichnet heute nicht nur, dass sich eine Vielfalt an Disziplinen – die Chemie war die erste von ihnen – Problemstellungen der Biologie zugewandt hat. Mit „Life Sciences“ ist heute auch eine in den vergangenen Jahrzehnten entstandene Branche gemeint, die sich aus der technologischen Umsetzung biowissenschaftlicher Ergebnisse (der „Bio-Technologie“) speist und mit den Veränderungen in der Pharmaindustrie in spezifischer Wechselwirkung steht. „So wie Ende des 18. Jahrhunderts mit dem Einsatz der ersten Dampfmaschinen die Industrielle Revolution begonnen hat, starten wir zu Beginn des dritten Jahrtausends mit Biotechnologie in ein neues Zeitalter“, formulierte in Ausgabe 3/2002 ein wenig emphatisch unser Autor Alexander Tempelmayer. Bereits ab 2003 trug der Chemiereport mit einer „Life Sciences“-Spezialheftstrecke dieser Entwicklung auch in seinem redaktionellen Konzept Rechnung. Die Branche war zu jener Zeit im Aufbruch begriffen: 2001 war mit der Arbeitsgemeinschaft „Austrian Biotech Industry“ erstmals in Österreich eine Interessensvertretung für den jungen Industriezweig gegründet worden. Zu den 13 Gründungsmitgliedern zählten neben Baxter, Boehringer Ingelheim oder Novartis auch bereits die ersten Start-up-Unternehmen aus dem universitären Umfeld. Die Cluster-Strukturen der Regionen zogen Schritt für Schritt nach: Noch unter dem Mantel der Innovationsagentur des Bundes wurde das Programm „Life Science Austria“ ins Leben gerufen, das heute von der AWS fortgeführt wird. Im Jahr 2000 fand der erste Businessplan-Wettbewerb „Best of Biotech“ (kurz BOB) statt, 2002 wurde die Wiener Clusterinitiative LISA Vienna Region (heute LISAvienna) ins Leben gerufen. In Ausgabe 2/2002 berichtete der Chemiereport, dass begonnen wurde, einen Biotechnologie- Cluster in Krems zu entwickeln. 2004 sollte das niederösterreichische Technopol-Programm starten, das Biotechnologie-Schwerpunkte in Krems und Tulln, industrielle Technologien mit einem starken materialwissenschaftlichen Fokus in Wiener Neustadt aufbaute. Im selben Jahr wurde auch in der Steiermark der Humantechnologie-Cluster gegründet.

Schon 2002 waren einige Dinge heiß umstritten. Die heimische Industrie drängte auf die Umsetzung der EU-Biopatentrichtlinie in nationales Recht. Damit sollte es möglich werden, biotechnologische Erfindungen rechtlich zu schützen. Die Opposition hingegen übte massive Kritik an dem Vorhaben: Ein Patent auf Pflanzen Tiere und Teile des menschlichen Körpers, öffne „den Gentech-Konzernen Tür und Tor zum größte organisierten Raubzug in der Geschichte der Menschheit“, formulierte Eva Glawischnig, damals Umweltsprecherin der Grünen, in üblicher Keulenschlag- Rhetorik. Die Thematik hat bis heute nichts von ihrer Aktualität verloren.

 

Erfolge und Niederlagen

Start-up-Unternehmen kamen und gingen. Unter den ersten in Österreich im akademischen Umfeld ins Leben gerufenen Unternehmen war die von Alexander von Gabain gegründete Impfstofffirma Intercell. Einem steilen Aufstieg folgten nach einigen Rückschlägen in klinische Studien 2011 eine herbe Ernüchterung und Einbrüche im  Aktienkurs. Der neu berufene CEO Thomas Lingelbach verordnete dem einstigen Vorzeige-Unternehmen ein straffes Streamlining. Igeneon, 1999 von Hans Loibner und Helmut Eckert gegründet, folgte Intercell wenig später. Das Unternehmen entwickelte Immuntherapien gegen Krebs, scheiterte aber nach Übernahme durch das US-Unternehmen Aphton an dessen Insolvenz. Das ehemalige Igeneon-Team prägt bis heute die Wiener Life- Sciences-Landschaft mit, Loibner wurde CEO des heute sehr erfolgreichen Start-up-Unternehmens Apeiron. Eine Erfolgsgeschichte ist auch diejenige von Affiris. Walter Schmidt und Frank Mattner, zwei ehemalige Intercell-Mitarbeiter, setzten auf Impfstoffe gegen weitverbreitete „Volkskrankheiten“ wie Alzheimer, Parkinson oder Diabetes – und konnten damit spektakuläre Lizenz-Deals einfahren.

Von gänzlich anderer Marktdynamik war in den vergangenen zehn Jahren die Kunststoffbranche geprägt. Vorhersagen, die Massenkunststoffe wie Polyolefine oder Polystyrole könnten mehr und mehr an Bedeutung verlieren, haben sich nicht bewahrheitet – im Gegenteil: Durch spezifisches „Höher-Entwickeln“ dringen Polyolefine immer mehr in Einsatzgebiete vor, die noch vor kurzem technischen Kunststoffen vorbehalten waren. Der Erfolg von Borealis ist ein schlagendes Beispiel für diese Entwicklung. Der einstige österreichisch-skandinavische Mischkonzern verlegte nach dem Ausstieg von Neste Oil und Statoil seine Konzernzentrale nach Wien. Der Standort Linz wurde in den vergangenen Jahren als Innovations-Headquarter und Zugpferd der gesamten Kunststoff branche ausgebaut.