Archive - Okt 29, 2015

Arzneimittelkosten: Fliegende Fetzen

Von „modernem Raubrittertum“ der Pharmaindustrie sprach heute die Vorsitzende des HV-Trägerverbands und Obfrau der Wiener Gebietskrankenkasse (WGKK), Ingrid Reischl. Ihr zufolge droht den Kassen wegen der steigenden Medikamentenkosten bis 2018 „eine Finanzierungslücke von insgesamt rund einer Milliarde Euro.“ Auf die WGKK entfielen davon um die 224 Millionen Euro. Der Grund für die ihr zufolge ausufernden Medikamentenkosten ist laut Reischl unter anderem, dass „dass Pharmafirmen ihre Präparate nach entsprechender Zulassung frei am Markt anbieten und nicht immer den Weg über die Aufnahme in den Erstattungskodex (EKO) gehen.“ Damit entzögen sie sich Verhandlungen über die Preise der jeweiligen Präparate.

 

Als Beispiel für einen Kostenverursacher nannte Reischl den Cholesterinsenker Repatha, der in der „Roten Box“ des EKO enthalten ist. Eine Therapie mit diesem Mittel koste „zwischen 615 und 1.035 Euro pro Patientin oder Patienten“. Eine herkömmliche Behandlung schlage dagegen lediglich mit 24 bis 53 Euro zu Buche. „Aufs Jahr gerechnet könnte allein der WGKK durch das neue Medikament ein Aufwand von bis zu 192 Millionen Euro entstehen“, fügte Reischl hinzu. Angesichts dessen könne die geplante ASVG-Novelle, mit der das Gesundheitsministerium der Pharmaindustrie einen jährlichen Rabatt von 125 Millionen Euro auf die Medikamentenkosten verordnen will, „nur ein erster Schritt in die richtige Richtung“ sein.

 

Konter der Industrie

 

Die Pharmaindustrie, die die Novelle für einen Verstoß gegen Verfassungs- und EU-Recht hält, ließ die Schelte nicht auf sich sitzen. Laut der Geschäftsführerin des Verbandes der chemischen Industrie Österreichs (FCIO), Sylvia Hofinger, kann Reischls fehlende Milliarde „nicht auf die Pharmawirtschaft rückgeführt werden. Hierfür sind andere Kostentreiber wie beispielsweise die eigenen Einrichtungen und Verwaltungskosten verantwortlich.“ Auch die vom HV kolportierte Steigerung der Medikamentenkosten um acht Prozent im heurigen Jahr ist laut Hofinger nicht nachvollziehbar. Tatsächlich müsse mit lediglich etwa fünf Prozent gerechnet werden. Im September seien die Kosten um rund 1,6 Prozent gestiegen. Reischl wolle mit ihren „Phantasiezahlen offensichtlich bewusste Irreführung“ betreiben.

 

Ungehalten reagierte auch der Generalsekretär des Pharmaindustrieverbands Pharmig, Jan Oliver Huber. „Frau Reischl, wir dürfen Sie daran erinnern, dass wir uns nach wie vor in einer partnerschaftlichen Zusammenarbeit und in Gesprächen befinden! Ihre jüngsten Aussagen sind in dieser Form schlichtweg inakzeptabel“, verlautete er in einer Aussendung. Die Branche habe „für die nächsten drei Jahre Solidarbeiträge in dreistelliger Millionenhöhe angeboten. Es ist an der Zeit, dem Vertragspartner in laufenden Verhandlungen mehr Wertschätzung entgegen zu bringen.“ Huber wies insbesondere Reischls Kritik an den Kosten für das Hepatitis-C-Medikament Sovaldi zurück: Die Therapie mit diesem sei „unter Berücksichtigung des Heilungserfolges und der nötigen Therapiedauer günstiger als die letzten Präparate. Letztendlich war dies der ausschlaggebende Grund für die Aufnahme in den Erstattungskodex.“
 

 

Huber zufolge ist der Anstieg der Medikamentenkosten nicht zuletzt durch die Alterung der Bevölkerung bedingt: Derzeit würden etwa 63 Prozent der Medikamente Personen mit über 60 Jahren verschrieben. Dieser Anteil werde in den kommenden Jahrzehnten weiter wachsen.