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Energiepolitik braucht Realismus

Wie die Chemiebranche die Energiekrise bisher bewältigte und mit welchen Herausforderungen sie konfrontiert ist, war Gegenstand eines Expertengesprächs auf Einladung des Fachverbandes der Chemischen Industrie.

 

„Energizing Chemistry - Transformation trifft Krise“ war der Titel eines Expertengesprächs auf Einladung des Fachverbandes der Chemischen Industrie (FCIO) am 28. Februar in Wien. FCIO-Obmann Hubert Culik konstatierte, die Energiekrise sei nur eine von mehreren Krisen, die die Branche zurzeit treffe. Im vergangenen Jahr sei der Gaspreis auf das Zehnfache des vor der Krise üblichen Niveaus gestiegen. Infolge des milden Winterwetters erwiesen sich Befürchtungen hinsichtlich einer Gasmangellage und damit eventuell verbundenen Unterbrechungen der Stromversorgung erfreulicherweise als unbegründet: „Wir haben Glück gehabt.“ Allerdings benötige die energieintensive Chemieindustrie Erdgas nicht nur als Energieträger, sondern auch als Rohstoff zur Herstellung einer breiten Palette an wichtigen Produkten, von Arzneimitteln über Kunstdünger bis zu Dämmstoffen sowie Materialien für Windräder und Solaranlagen. „Etwa 96 Prozent aller in der EU hergestellten Produkte kommen aus der Chemie. Ohne sie geht nichts, auch nicht der Kampf gegen die Klimakrise“, betonte Culik.

 

Deshalb gelte es, die von der Branche benötigte Energie zu erschwinglichen Preisen bereitzustellen. Der Energiekostenzuschuss der Bundesregierung in seiner bisherigen Form war laut Culik „schwer nutzbar und brachte keine Erleichterungen“. Außerdem handle es sich um eine kurzfristige Maßnahme. Die Energiekrise dauere aber längere Zeit an. Die Forderung an die Branche, ihren Energiebedarf zu senken, klinge wohl logisch. Doch die gleichzeitig geäußerte Forderung, den CO2-Ausstoß zu verringern, führe zu verstärkter Elektrifizierung und damit zu höherem Strombedarf. „Wir als Chemiebranche bräuchten 60 Wasserkraftwerke in der Größe des Kraftwerks Freudenau oder eine Photovoltaikanlage von der Fläche Wiens, um mit Ökostrom klimaneutral zu werden“, erläuterte Culik. Das könne sich nicht ausgehen.

 

Culik ergänzte, er sei seit Langem in der Chemieindustrie tätig: „Aber eine solche Transformation wie derzeit hat es noch nie gegeben.“ Der Politik riet Culik zu „mehr Realismus. Es ist unsinnig, die konventionelle Technik abzubauen, bevor die grüne Technologie ausgebaut ist. Wenn wir so vorgehen, wandert die Industrie ab. Dem Klima ist damit aber nicht geholfen, weil in anderen Weltgegenden mehr CO2 emittiert wird“. Es bestehe das Risiko „einer Deindustrialisierung und damit der Gefährung unseres Wohlstands“. Dem gelte es mit pragmatischer statt „ideologiegetriebener“ Politik gegenzusteuern.

 

Düngerindustrie braucht erschwingliche Energie

 

Der massive Anstieg der Gaspreise erfolgte nicht erst mit dem Krieg in der Ukraine, betonte Andreas Steinbüchler, der Geschäftsführer der Borealis L.A.T., die für das Dünger- und Stickstoffgeschäft des Chemiekonzerns zuständig ist. Zurzeit liegt der Gaspreis in Europa laut Steinbüchler bei etwa 50 Euro pro Megawattstunde (MWh), in den USA sind es umgerechnet 10 bis 12 Euro, ebenso wie in Afrika. Das Problem seines Unternehmens: „Rund 90 Prozent unserer variablen Kosten werden über Gas definiert.“ Und das schlage sich verständlicherweise in den Preisen der Produkte nieder: Dünger aus Russland sei um etwa ein Fünftel des Preises in Westeuropa erzeugten Düngers zu haben. Die Folge: „Die Einfuhren russischen Düngers sind im Vergleich zu den Vorkriegsmengen um rund 40 Prozent gestiegen.“ Deckte Österreich seinen Bedarf 2021 zu rund 25 Prozent mittels Importen, waren es 2022 etwa 40 Prozent. Für heuer ist laut Steinbüchler mit rund 43 Prozent zu rechnen. Die (west-)europäische Düngerindustrie sei aufgrund der hohen Gaspreise international nicht konkurrenzfähig.

 

Bleibe diese Situation über mehrere Jahre unverändert, müssten Erzeugungskapazitäten stillgelegt werden. Die Borealis L.A.T. selbst habe ihre Produktion am Standort Linz, einem der modernsten und effizientesten in Europa, um rund 50 Prozent verringert. Und dass der deutsche Chemiegigant BASF vergangene Woche ankündigte, seine Ammoniakerzeugung am Stammsitz Ludwigshafen zu schließen, ist laut Steinbüchler „das erste Signal, es wird kritisch“. Die Industrie brauche erschwingliche Energie und ausreichende Infrastrukturen, um diese verfügbar zu machen. Doch die europäische Politik habe es bis dato nicht geschafft, entsprechende Maßnahmen zu setzen, kritisierte Steinbüchler. Offenbar würden energiepolitische Überlegungen von der Sorge um die Sicherheit der Nahrungsmittelversorgung überlagert. Deshalb bestehe keine Bereitschaft, die Importe billigen russischen Düngers einzuschränken.

 

Fehlender politischer Wille

 

Gottfried Rosenauer, seines Zeichens „Director Site Services“ des Faserkonzerns Lenzing, konstatierte, die Erdgaspreise seien seit 2021 förmlich „explodiert“: „Und es ist keine Lösung, dass wir verflüssigtes Erdgas (LNG) aus den USA importieren und das als Allheilmittel sehen.“ Abgesehen von seinen wirtschaftlichen Vorteilen belaste Pipelinegas aus Russland die Umwelt erheblich weniger als LNG. In die Bredouille gekommen sei Europa aber vor allem aus einem Grund: „Wir haben versäumt, unsere eigenen Gasvorkommen zu explorieren sowie zu erschließen. Dazu fehlt einfach der politische Wille.“ Kritik übte Rosenauer auch am Merit-Order-Prinzip zur Preisbildung im Großhandel mit Strom. Grob gesprochen, besagt dieses: Der Preis eines Produkts wird durch die Kosten des teuersten zur Bedarfsdeckung nötigen Produkts der betreffenden Art bestimmt. Das aber sei angesichts des hohen Anteils der Wasserkraft an der Stromerzeugung in Österreich nicht recht nachvollziehbar: „Die Donau ist ja nicht teurer geworden.“

 

Am Standort Lenzing selbst konnte die Lenzing AG die Energiekrise „recht gut bewältigen“, berichtete Rosenauer. Es bestünden Möglichkeiten zur energetischen Nutzung von Biomasseabfällen und Ablauge aus der holzbasierten Zellstofferzeugung. Ferner könnten auch Rinde und Sägespäne verfeuert werden. Überdies habe die Lenzing gemeinsam mit dem Stromkonzern Verbund schon vor der Energiekrise eine große Photovoltaikanlage auf ihrer aufgelassenen Aschendeponie installiert. Die Genehmigung dafür zu erhalten, sei allerdings ein wahrer „Spießrutenlauf“ gewesen, der rund zwei Jahre gedauert habe. Geplant ist laut Rosenauer, in der Fabrik Heiligenkreuz im Südburgenland eine weitere Photovoltaikanlage zu errichten, um auch dort den Eigenanteil an der Stromproduktion zu erhöhen. Klar ist Rosenauer zufolge aber: „Die berühmten ‚low hanging fruits‘ im Energiebereich gibt es bei uns nicht mehr. Die Früchte, die wir noch ‚ernten‘ können, hängen zwei Kilometer hoch.“

 

Photovoltaik: nicht in Kärnten

 

René Haberl, der Vorstand der auf Chemie und Metallurgie spezialisierten Treibacher Industrie AG, erläuterte, sein Unternehmen benötige jährlich rund 85 Gigawattstunden (GWh) Strom und 150 GWh Erdgas für Hochtemperaturprozesse wie das Rösten, Kalzinieren und Schmelzen. Bei einem Jahresumsatz von etwa 670 Millionen Euro seien die Energiekosten 2022 um rund 30 Millionen Euro gestiegen. Der Anteil der Energiekosten an den Gesamtkosten der Treibacher habe sich um rund drei Prozentpunkte auf zehn Prozent erhöht. In Reaktion darauf habe das Unternehmen unter anderem Zweistoffbrenner installiert, um neben Erdgas auch Schweröl verwenden zu können. Überdies werde anders als in der Vergangenheit auch die Abwärme der Produktionsanlagen genutzt: „Damit sparen wir uns immerhin rund 2 GWh Erdgas pro Jahr.“ Freilich sei das nicht die Welt, aber nennenswerte Kostensenkungen bringe es allemal. Dringend notwendig seien geeignete Rahmenbedingungen, um energiewirtschaftliche Vorhaben umsetzen zu können. Und dazu gehörten keineswegs zuletzt zügige Genehmigungsverfahren, Technologieförderung sowie Bürokratieabbau, aber auch Maßnahmen, um Risikokapital leichter verfügbar zu machen. Und auch sein Unternehmen habe seine Erfahrungen mit der Realisierung von Photovoltaikanlagen gemacht, ergänzte Haberl. In Kärnten sei diese trotz aller Anstrengungen und trotz allen guten Willens seitens der Industrie kaum möglich.

 

Viel zu tun

 

Einen generellen Überblick über die energiepolitische und energiewirtschaftliche Lage bot der ehemalige Generaldirektor des Verbunds, Wolfgang Anzengruber, der Bundespräsident Alexander van der Bellen in Fragen der Energieversorgung berät. Anzengruber betonte, die Herausforderung bestehe weniger darin, „dass uns der russische Präsident Wladimir Putin nervt“. Vielmehr gehe es um Folgendes: Im Klimaabkommen von Paris vom Dezember 2015 habe sich die internationale Staatengemeinschaft dazu verpflichtet, den Anstieg der globalen Durchschnittstemperatur bis Ende des Jahrhunderts auf „deutlich weniger“ („well below“) 1,5 Grad Celsius zu begrenzen. Gelingt das nicht, drohen massive ökonomische sowie politische Verwerfungen, vom deutlichen Sinken des Wohlstandniveaus in den Industrienationen bis zu Migrationsbewegungen ungeahnten Ausmaßes in der Dritten Welt: „Südostasien könnte teilweise unter Wasser stehen.“ Und klar ist laut Anzengruber: „Wir brauchen keine neuen klima- und energiepolitischen Ziele. Die Ziele sind seit Paris klar. Außerdem gibt es die Nachhaltigkeitsziele der Vereinten Nationen, die Sustainable Development Goals (SDGs).“ Statt dessen gehe es ums Umsetzen.

 

Und da habe nicht zuletzt Österreich einiges zu tun. So solle etwa der Strombedarf ab 2030 bilanziell aussschließlich mit erneuerbaren Energien gedeckt werden: „Um da hin zu kommen, haben wir nur mehr knapp sieben Jahre Zeit.“ Im Gassektor decke Österreich rund 63 Prozent seines Bedarfs mit Importen aus Russland. Diese mit Einfuhren aus anderen Regionen zu ersetzen, „wird ein gehöriges Stück Arbeit“. Ferner plane die Bundesregierung bekanntlich, Österreich bis 2040 „klimaneutral“ zu machen. Bis dato werde jedoch nur das hierzulande emittierte CO2 betrachtet, das sich auf etwa zehn Tonnen pro Kopf und Jahr belaufe. Realistisch betrachtet, sei aber das „konsumierte“ CO2 in den Blick zu nehmen. Das indessen bedeute, Österreich auch jene Emissionen zuzurechnen, die bei der Erzeugung der alljährlich importierten Waren entstehen. So gesehen, liege Österreich bei etwa 30 Tonnen an CO2-Emissionen pro Kopf und Jahr. Und diese auf Netto-Null zu bringen, werde alles andere als einfach.

 

Ziele erreichbar

 

Erreichbar sind die Ziele aber, betonte Anzengruber. Notwendig sei freilich eine Reihe von Rahmenbedingungen. Diese umfassen nicht zuletzt Kennzahlen für Nachhaltigkeit, um einschlägige Maßnahmen bewerten und ihre Wirksamkeit überwachen zu können. Wichtig sei aber auch, die fragmentierten Wertschöpfungsketten zu schließen: „Es kann nicht sein, dass sich ein Schiff im Suezkanal querstellt und dann die halbe Weltwirtschaft steht.“ Ferner müsse die Devise lauten: „So viel Regulierung wie nötig, so viel Markt wie möglich.“ Staatliche Eingriffe und planwirtschaftliche Überlegungen dürften keinesfalls überhand nehmen. Gefragt sei weiters internationale Kooperation: „Autarkiephantasien sind nicht sinnvoll.“ In technischer Hinsicht sei Österreich gut beraten, auf die CO2-Abscheidung aus Kraftwerks- und Industrieabgasen (Carbon Capture) nicht zu verzichten. Darüber hinaus gelte es, die Jugend für die Umgestaltung des Energiesystems zu gewinnen und eine „Plattform der Willigen“ zu bilden. Europa sei es gelungen, mit Herausforderungen wie dem „sauren Regen“ fertigzuwerden. Auch die Klimakrise lasse sich meistern: „Wir haben in Europa Technologien, gescheite Leute und viel Erfahrung.“ Es gebe keinen Grund, die Probleme nicht endlich anzugehen, resümierte Anzengruber.