I n der Bibliothek der New Design Universi- ty (NDU) in St. Pölten findet man seit kur- zem nicht nur Bücher vor. Eine Längssei- te des Raumes ist über und über mit Kunststoffteilen behängt. Alle besitzen dieselbe Geometrie, sind aber aus den un- terschiedlichsten Materialien hergestellt und zeigen die verschiedensten Farben und Oberflächen. Was man hier zu sehen bekommt, ist der österreichische Standort der Materialbibliothek „Materiautech“ (1), der hier im Rahmen der „Langen Nacht der Forschung 2016“ am 22. April eröffnet wur- de. Ziel ist, zu zeigen, wie breit das Spekt- rum an Möglichkeiten ist, das Kunststoffe und Verbundmaterialien heute bieten – und das nicht nur dem Auge des Betrachters, sondern auch dessen Händen, die das haptische Erleben vermitteln, und dessen Nase, die daran riechen kann. Partner beim Aufbau der Materialbibliothek sind neben der NDU der Kunststoff-Cluster, die Wirt- schaftskammer Niederösterreich und der französische Kunststoffindustrie-Verband Allizé Plasturgie. Die Geschichte des Projekts begann mit einer Reise nach Frankreich. Der Kunst- stoff-Cluster nahm an dem EU-geförderten Interreg IVC-Projekt „Clusterix“ teil, bei dem es darum ging, branchen- und regionen- übergreifende Cluster-Netzwerke weiterzu- entwickeln. Dabei lernte Cluster-Manager Harald Bleier im französischen Oyonnax auch die Materialbibliothek Materiautech kennen. Die gezeigte Materialvielfalt be- geisterte den Branchenkenner. „Wir haben immer wieder intensiv darüber diskutiert, wie wir die riesigen Möglichkeiten von Kunststoffen jungen Leute näherbringen können“, erzählt Bleier: „Materiautech ent- spricht genau dem, was wir dazu brauchen. So etwas wollte ich auch in Österreich ha- ben.“ Der Kontakt zum französischen Kunst- stoffindustrie-Verband Allizé Plasturgie, der hinter Materiautech steht, war schnell her- gestellt, man traf sich in Lyon, dem Haupt- standort der Materialbibliothek. „In der Al- lizé sind rund 50 Prozent der französischen Kunststoff-Unternehmen vertreten. Viele davon sind auch Partner von Materiautech“, erzählen Gilles Gauthier und Sébastien Moussard, die eigens zur Eröffnung des österreichischen Ablegers nach St. Pölten gekommen sind. Materiautech fungiert in- nerhalb des Netzwerks als Ansprechpart- ner und Kompetenzstelle für Materialien und Prozesse. In einem eigenen Techni- kums-Betrieb in Lyon können Teile aus vielen Materialien und mithilfe zahlreicher Prozesse selbst produziert werden, spezi- elle Technologien werden über Partner ab- gedeckt. Dabei wird immer wieder neuen Entwicklungen Rechnung getragen: So hat man sich etwa auch mit Kunststoffen zur Metallsubstitution, leitfähigen Polymeren oder 3D-Druck beschäftigt. Das Wissen der Kunststofftechnik – kompakt und anschaulich Um die Vielfalt an Kunststoffanwendun- gen zeigen zu können, wurde ein Referenz- muster entworfen, das sich „GEM“ nennt und so designt ist, dass die verschiedenen Kunststoffeigenschaften optimal präsentiert werden können. Es besteht aus einer gebo- genen Bauform, in die verschiedene Struk- turen eingearbeitet sind – eine Fließlinie, eine Schweißnaht, verschieden texturierte Ober- flächen. Die Teile weisen Dickenvariationen und Ebenenwechsel auf und lassen so erken- nen, wie die Variantenvielfalt der Kunststoff- verarbeitung mit dem jeweiligen Polymer um- gesetzt wurde. „Ein Spezialist kann erkennen, wo die Anspritzpunkte liegen und wie man da- her bei der Herstellung des Teils vorgegangen ist“, analysiert Gerhard Brunnthaler von der Firma Miraplast. Dadurch würden auch Feh- ler sichtbar, beispielsweise Einfallstellen oder Materialanhäufungen. „Man sieht dabei auch die Grenzen bestimmter Materialien: Nicht je- der Kunststoff ist für jeden Einsatzzweck ge- eignet“, so Brunnthaler. Derartige Fehler sind ein guter Ausgangspunkt für Optimierungen, wie Cluster-Manager Harald Bleier ergänzt: „Wenn sich ein Kunststoff zur Herstellung eines GEM als ungeeignet erweist, können Material oder Werkzeug weiterentwickelt werden. Das neu entwickelte Material kann dann in die Materialbibliothek aufgenommen werden und in Form eines neuen GEM allen Nutzern zu Verfügung stehen.“ Gerhard Brunnthaler ist ein Routinier der Kunststoffverarbeitung. Anfang der 1970er-Jahre übernahm er ein von seinem Onkel gegründetes Spritzguss-Unternehmen und baute es unter der Marke Miraplast zu ei- nem florierenden Familienunternehmen mit mehr als 100 Mitarbeitern aus. Heute ist der in Würmla (Bezirk Tulln) angesiedelte Betrieb sowohl in der Herstellung von Spritzguss- Philipp Aduatz ist Industriedesigner und unterrich- tet an der New Design University zum Thema Kunststoffe. Der Projektleiter des österreichischen Standorts von Materiautech wird die Materialbi- bliothek in Forschung und Lehre benützen. 500 BUNTE PLASTIKTEILE Ein Kooperationsprojekt des Kunststoff-Cluster aus Sicht der Beteiligten Die Materialbibliothek „Materiautech“ hat an der New Design University in St. Pölten einen österreichischen Standort erhalten. Hier bietet sich eine Vielfalt an Möglichkeiten für Designer, Kunststoffunternehmen, Forscher und Lehrende. Bilder: Chemiereport/Nadine Bargad WKNÖ-Präsidentin Sonja Zwazl (links) und NDU-Rektor Stephan Schmidt- Wulffen (rechts) bei der Eröffnung des österreichischen Zweigs von Materiautec.