Archive - Feb 21, 2012

Selten, aber problematisch

EU-weit leiden insgesamt etwa 30 Millionen Personen an einer der rund 8.000 verschiedenen sogenannten „seltenen Erkrankungen“ („Rare Diseases“), also chronischen, häufig auch fortschreitenden Erkrankungen, die zu etwa 80 Prozent genetisch bedingt sind. Als „selten“ gilt eine Erkrankung in der Europäischen Union dann, wenn statistisch gesehen von 2.000 Einwohnern nicht mehr als eine Person an ihr leidet. Bei EU-weit 30 Millionen insgesamt Betroffenen wären dies pro Krankheit somit maximal 15.000 Personen. Der Massenmarkt, der benötigt wird, um ein Medikament kommerziell rentabel zu machen, existiert bei den „seltene Erkrankung“ damit nicht. „Ohne den politischen Willen, entsprechende Arzneien zu entwickeln, findet das einfach nicht statt“, erläuterte Martina Schmidt, die Geschäftsführerin der Actelion Pharmaceuticals Austria GmbH und Vorsitzende des Arbeitskreises „Rare Diseases“ des Pharmaindustrieverbandes Pharmig, bei einer Pressekonferenz aus Anlass des „Rare Disease Day“ am 29. Feber in Wien.<p>
Immerhin ist dieser Wille zumindest grundsätzlich gegeben: Schon Ende Jänner 2000 trat die europäische Verordnung über entsprechende Arzneimittel („Orphan Drugs“) in Kraft. Sie begrenzt die Zulassungsgebühren für solche Medikamente und gewährt den Herstellern ein zehnjähriges exklusives Vermarktungsrecht. Das Ergebnis: Seit Inkrafttreten der Verordnung wurden 924 Wirkstoffe erforscht und 62 Medikamente zugelassen. Allerdings: 2011 belief sich die Anzahl der Zulassungen auf gerade einmal vier, in früheren Jahren waren es bis zu zehn gewesen. Schmidt: „Das ist eigentlich ein Alarmsignal. Man muss sich fragen, ob die Förderungen ausreichend sind.“<p>

Bewusstsein verbessern<p>
Und dazu kommt noch ein Problem, erläuterte Pharmig-Generalsekretär Jan Oliver Huber: Die Krankenkassen gingen beim Erstatten der Medikamentenkosten grundsätzlich von hohen Patientenzahlen aus, die es bei „Rare Diseases“ sozusagen per definitionem nicht gibt. Außerdem gelten in allen 27 EU-Staaten unterschiedliche Erstattungssysteme, was die Neuentwicklung von Medikamenten auch nicht eben einfacher macht. Und: In Österreich bedarf die Abgabe von „Orphan Drugs“ an einen Patienten der Genehmigung durch den zuständigen Chefarzt. Betroffene berichten, dass dessen Placet nicht immer eine Selbstverständlichkeit ist. Auch Ämter und Behörden seien sich des „Rare-Disease“-Problem nicht immer ausreichend bewusst, ergänzte Schmidt: „Immer wieder müssen Menschen erklären, warum sie eine spezielle Therapie brauchen, obwohl sie doch ohnehin so gesund aussehen.“<p>
Eine Besserung der Lage erwartet sie sich nicht zuletzt vom nationalen Aktionsplan für seltene Erkrankungen, den alle EU-Mitgliedsstaaten bis Ende 2013 auszuarbeiten haben. In Österreich erledigt das die Anfang 2011 eingerichtete „Nationale Koordinationsstelle Seltene Erkrankungen“ (NKSE) gemeinsam mit dem Gesundheitsministerium. Der Plan dient unter anderem der Verbesserung des Bewusstseins hinsichtlich „Rare Diseases“, dem Aufbau eines umfassenden Informationssystems, der besseren Diagnostik und des Zugangs zu Therapien und schließlich der – auch finanziellen – Anerkennung der Leistungen einschlägiger Selbsthilfegruppen. Laut Schmidt laufen die Arbeiten zufriedenstellend. Auch das Sozialministerium ist mittlerweile daran beteiligt.<p>

Strukturell reformieren<p>
Wie sich die in Verhandlung befindliche Reform des Gesundheitswesens auf den Umgang mit den „Rare Diseases“ auswirken wird, steht noch nicht fest. Pharmig-Generalsekretär Huber sagte aber, er hoffe, dass der Aktionsplan wie vorgesehen erstellt wird. Und: Die großen Brocken bei den Einsparungen seien bekanntlich ohnehin nicht bei den Medikamenten zu holen: „Es müssten endlich die Strukturreformen im stationären Bereich durchgeführt werden. Außerdem gehören die Kompetenzen im Gesundheitsbereich bereinigt.“