Archive - Aug 22, 2016

Mythen und Aufklärung in der Medizin

Auf dem Podium der diesjährigen Alpbacher Gesundheitsgespräche wurden unter dem Motto „Neue Aufklärung“ zahlreiche kritische Fragen an das Gesundheitssystem in seiner aktuellen Ausprägung gerichtet.

 

Leroy Hood ist ein Enthusiast des medizinischen Fortschritts. In typisch nordamerikanischem Missionsgeist verkündete der Gründer und Präsident des „Institute for Systems Biology“ in Seattle den Teilnehmern der diesjährigen Alpbacher Gesundheitsgespräche bereits bei der Eröffnung am Sonntagabend, wie durch das Zusammenwirken von Genom- und Mikrobiomanalyse, permanentes „Self Tracking“ gesundheitsbezogener Maßzahlen sowie genaue und regelmäßige Labortests eine neue Medizin in Gang gesetzt werden soll, die nicht erst dann einsetzt, wenn eine Krankheit bereits ausgebrochen ist. „Scientific Wellness“ ist das Zauberwort, das Hoods Ziele zusammenfasst: die wissenschaftliche Objektivierung des Wohlbefindens eines individuellen Patienten.

Nicht nur weite Teile des Publikums begegneten solchen Verkündigungen mit einer gesunden Portion Skepsis. Auch auf dem Podium stellte die Künstlerin und Biohackerin Heather Dewey-Hagborg, die sich in ihren Interventionen kritisch mit den Möglichkeiten einer Analyse unserer allgegenwärtigen DNA-Spuren beschäftigt, die Frage: Wer bestimmt, was wessen Wellness ist? Und darf man sich künftig auch noch bewusst dafür entscheiden, nicht „well“ sein zu wollen?

 

Überdiagose  und Überbehandlung

Die Diskutanten des Montagvormittags vertieften die Kritik an vielem, was heute im Gesundheitswesen vor sich geht. Dabei wurde eher ein „Zuviel“ als eine „Zuwenig“ diagnostiziert.  Teppo Järvinen von der Universität Helsinki stellte eine Studie vor, der zufolge 146 von 363 untersuchten gängigen Praktiken in der Medizin den Patienten eher schaden als nutzen. Durch Einführung einer immer größeren Anzahl an Risikofaktoren würden zudem immer mehr Menschen in umfassende Behandlungsschemata gedrängt. Diana Miglioretti, Biostatistikerin an der University of California in Davis, berichtete, dass nur ein sehr kleiner Teil der Frauen von einem flächendeckenden Brustkrebs-Screening profitiert, die Gefahr eine Überdiagnose und daraus folgenden Überbehandlung aber beträchtlich sei. Ian Johnson vom Institute of Food Research in Norwich setzte sich kritisch mit den zahlreichen behaupteten Zusammenhängen zwischen Ernährung und Krankheitsrisiko auseinander.

Moderator Werner Bartens, Redakteur der Süddeutschen Zeitung, vertrat in all diesen Diskussionen selbst einen deutlichen Standpunkt: Wie konnte es passieren, fragte er, dass Gesundheit etwas geworden ist, um das man sich fortwährend bemühen müsse, anstatt einfach damit zufrieden zu sein. So mancher Vorschlag des Querdenkers geriet dennoch etwas zu naiv, beispielweise die Forderung nach einem Ende der Industrialisierung des Gesundheitswesens inmitten einer industrialisierten Welt. Ebenso käme eine von Martens geforderte „Positivliste“ zu verwendender Arzneimittel der Entscheidungsfreiheit von Ärzten und Patienten nicht wirklich entgegen. Breite Zustimmung fand hingegen die von mehreren Diskutanten erhobene Forderung nach stärker evidenzbasierten Entscheidungen, die mit so manchem verbreiteten Mythos aufräumen könnten.