Archive - Mär 19, 2012

Kein Grund zur Strahlenpanik

Bilanz über den durch das schwere Erdbeben und die nachfolgende Flutwelle vom 11. März 2011 ausgelösten Unfall im japanischen Kernkraftwerk Fukushima I (Fukushima Daiichi) zogen international anerkannte Kernphysiker kürzlich bei einem Symposium am Atominstituts der österreichischen Universitäten (ATI) in Wien. Paul R. J. Saey von der Internationalen Atomenergieagentur (IAEA), der sich zur Zeit des Ereignisses beruflich im Gebiet um Fukushima aufhielt, berichtete, rund 97,7 Prozent der emittierten Strahlung seien über dem Pazifischen Ozean verteilt und dort extrem verdünnt worden. In den USA sei die auf den Unfall zurückzuführende Strahlung gerade noch im Bereich von Tausendsteln der natürlichen Hintergrundstrahlung gelegen, in Europa im Bereich von Hunderttausendsteln. Ein großer Austrag radioaktiven Materials wurde, vom Kraftwerk aus gesehen, in nordwestliche Richtung verfrachtet, also ins Innere der japanischen Hauptinsel Honshu. Dort wurden kurzfristig Luftbelastungen von bis zu 100 Millisievert (mSv) gemessen. Da die Bevölkerung in dem betroffenen Gebiet aber rasch evakuiert wurde, habe deren Strahlenbelastung, übers Jahr gerechnet, höchstens etwa acht mSv betragen – ein Wert, bei dem keinerlei Auswirkungen auf die Gesundheit zu befürchten sind. Die – unbedenkliche - natürliche Hintergrundstrahlung in den USA beispielsweise wird mit etwa 3,1 mSv pro Jahr beziffert. Laut Saey haben sich die Strahlungswerte der Evakuierungszone im Umkreis von 20 Kilometern um Fukushima Daiichi mittlerweile wieder weitgehend normalisiert. Es gebe zwar nach wie vor einige „hot spots“ mit vergleichsweise hoher Belastung. Doch von diesen abgesehen, könnte die Zone ohne Risiko wieder besiedelt werden. „Natürlich ist das eine politische Entscheidung“, sagte Saey.

Ihm zufolge richtete die IAEA an ihrem Hauptsitz in Wien bereits eine Stunde nach Bekanntwerden des Unglücks am 11. März 2011 ein rund um die Uhr besetztes Krisenzentrum ein. Dessen Experten standen ihren Kollegen in Japan beratend zur Seite und informierten die Öffentlichkeit in regelmäßigen Abständen über die Entwicklungen in Japan. Die IAEA entsandte auch mehrere Teams von Kernenergie- und Strahlenschutzexperten ins Unglücksgebiet. Sie führten unabhängig von den japanischen Behörden Messungen durch und unterstützten damit das Krisenmanagement.

Nicht Tschernobyl

Der Strahlenschutzexperte Michael Hajek stellte klar, im Gegensatz zu manchen Behauptungen sei der Unfall in Fukushima keineswegs mit dem im damals sowjetischen Kernkraftwerk Tschernobyl Ende April 1986 zu vergleichen: In Tschernobyl ereignete sich eine Nuklearexplosion in einem graphitmoderierten Reaktor, der keine Schutzhülle (Containment) besaß. Im Gegensatz dazu explodierte in Fukushima ausschließlich Wasserstoff. Schäden an den Containments der betroffenen Reaktoren werden vermutet, sind aber bis dato nicht nachgewiesen. Was die Strahlungsmenge betrifft, wurde in Fukushima rund ein Zehntel bis ein Achtel der in Tschernobyl emittierten 5,2 Millionen Terabecquerel freigesetzt. Binnen zweier Tage evakuierte die japanische Regierung rund 85.000 Personen aus dem betroffenen Gebiet. Zum Vergleich: Aufgrund des Erdbebens und der nachfolgenden Flutwelle wurden 380.000 Personen obdachlos. In Tschernobyl belief sich die Zahl der im Lauf des Jahres 1986 Evakuierten auf rund 115.000. Und während beim Unglück im sowjetischen AKW bis dato 64 Personen der freigesetzten Strahlung zum Opfer fielen, war in Fukushima kein einziger Toter aufgrund der Strahlung zu beklagen. „Auch die radiologischen Langzeitfolgen dürften nach allem, was wir wissen, gering sein“, betonte Hajek.

Zwar zogen Wolken, die radioaktives Material aus Fukushima enthielten, auch über die japanische Hauptstadt Tokyo. Doch betrug die so bewirkte kurzfristige Strahlenbelastung der Bevölkerung höchstens das Fünffache der natürlichen Hintergrundstrahlung – ein Wert, der keinerlei Gefahr für die Gesundheit bedeutet. Überdies versorgten die Behörden die Bevölkerung im Gebiet in der sogenannten „freiwilligen Evakuierungszone“ („deliberate evacuation area“) im Umkreis zwischen 20 und 30 Kilometern um das havarierte Kraftwerk mit Jodtabletten und ordneten deren Einnahme an. Dies verhinderte gesundheitlich relevante Schilddrüsenbelastungen, insbesondere bei Kindern. Auch die Strahlenbelastung durch in Verkehr gebrachte Nahrungsmittel erwies sich als unbedenklich. Von 20.000 Stichproben wiesen 99,5 Prozent keine Überschreitung der ohnehin niedrigen Grenzwerte auf.

Nicht nachweisbar

Hajek verwies auf eine Untersuchung unter 10.000 Personen aus dem Gebiet um Fukushima Daiichi, die Robert Gale, Visiting Professor am Imperial College in London, vor Kurzem präsentiert hatte. Ihr zufolge waren 5.800 Personen einer Strahlenbelastung von weniger als einem mSv ausgesetzt, 4.100 weitere erhielten Dosen zwischen einem und zehn mSv. Bei 71 Personen lag die Strahlenbelastung zwischen zehn und 20 mSv, bei zweien zwischen 20 und 23 mSv. Gale zufolge steigt mit diesen Werten das Risiko der Betroffenen, an Krebs zu erkranken, um 0,001 Prozent, das Risiko, an Krebs zu sterben, um 0,002 Prozent.

Ohnehin ist unterhalb einer Belastung von 100 mSv kein Zusammenhang zwischen dieser und der Krebsinzidenz sowie der Krebsmortalität feststellbar, betonte Hajek: „Wenn die Belastung einer Person nicht höher war, kann man einfach nicht sagen, ob ihre Krebserkrankung darauf oder auf eine andere Ursache zurückzuführen ist.“ Und der Strahlenschützer fügte hinzu: Ein starker Raucher nehme über den Rauch freiwillig rund ein mSv pro Jahr an Strahlenbelastung auf.


Geringste Werte

Wie der Strahlenphysiker Georg Steinhauser erläuterte, gelangte zwar radioaktives Material aus Fukushima Daiichi auch nach Österreich. Die Mengen waren aber erwartungsgemäß minimal. In Lebensmitteln aus der Region Fukushima, die an das ATI gesandt worden waren, stellten Steinhauser und seine Kollegen zwar Radionukleide aus dem Kraftwerk fest, vor allem Cäsium137. Doch auch die dabei gemessenen Werte waren äußerst niedrig. Überdies übermittelten japanische Strahlenschutzexperten dem ATI eine umfangreiche Untersuchung über Nahrungsmittelproben, deren Strahlungsgehalt die geltenden Grenzwerte überschritten hatte. Steinhauser: „Eine der Proben betraf Sauerkirschen. Um ein mSv aufzunehmen, müsste man davon ein Jahr lang jeden Tag ein Kilogramm verzehren.“ Das ginge vielleicht noch an. Etwas schwieriger dürfte es sein, dieselbe Strahlendosis mit jenem grünen Pfeffer zu erreichen, der gleichfalls untersucht worden war. Davon müsste ein Erwachsener rund ebenfalls ein Jahr lang täglich rund 300 Kilogramm zu sich nehmen. kf