Archive - Jun 9, 2016

Endokrine Disruptoren: VCI fordert „Augenmaß“

Eine „Gesetzgebung mit Augenmaß für hormonell aktive Stoffe“ fordert der deutsche Verband der Chemischen Industrie (VCI). Der Hintergrund: Nach jahrelangen Verzögerungen kündigte die EU-Kommission kürzlich an, demnächst Kriterien vorzuschlagen, anhand derer hormonell schädliche Stoffe („endokrine Disruptoren“) identifiziert werden können. Laut VCI „sollten diese Kriterien nur Stoffe erfassen, die schon in geringen Mengen und Dosierungen eine schädliche Wirkung beim Menschen oder in der Umwelt verursachen“. Der VCI schlägt daher vor, bei der Einstufung unter anderem folgende Kriterien zu berücksichtigen: die Wirkstärke, die Schwere der schädlichen Effekte, die Reversibilität allfälliger negativer Auswirkungen sowie die Aussagekraft der der Einstufung zugrunde liegenden wissenschaftlichen Daten. Der VCI folgt damit im Wesentlichen dem seit längerem vorliegenden Konzept des deutschen Bundesinstituts für Risikobewertung (BfR).

 

Wie der Verband betont, besteht bereits eine Reihe von Vorschriften hinsichtlich der endokrinen Disruptoren. So ist es möglich, im Rahmen des europäischen Chemikalienmanagementsystems REACH eine Zulassungspflicht zu verhängen. Außerdem können endokrine Disruptoren aufgrund der Pflanzenschutzmittel-Verordnung sowie der Biozidprodukte-Verordnung verboten werden. Laut VCI-Hauptgeschäftsführer Utz Tillmann darf es „nicht dazu kommen, dass eine Vielzahl von Stoffen, die wichtig für modernen Pflanzenschutz oder effiziente Materialien sind, unnötig reguliert oder sogar verboten wird, selbst wenn von ihnen bei sachgemäßer Nutzung kein erhöhtes Risiko ausgeht“. Ihm zufolge ist die „sichere Handhabung hormonaktiver Stoffe machbar“.

 

Kommission unter Kritik

 

Die EU-Kommission wollte schon 2013 Kriterien für die Einstufung von Stoffen als endokrine Disruporen vorschlagen. Indessen erwies es sich als schwierig, einen wissenschaftlichen Konsens bezüglich der Gefahren durch die fraglichen Substanzen zustande zu bringen. Während eine Gruppe von Wissenschaftlern von der klassischen „Dosis-Wirkungs-Beziehung“ (je höher die Dosis, desto schwerer die Wirkung) ausgeht, beharrt eine andere Gruppe darauf, dass selbst geringste Mengen von endokrinen Disruptoren bereits eine Gefahr für Menschen darstellen können. Infolge dessen verschob die Kommission die Festlegung der Kriterien immer wieder.

 

Mehrere EU-Mitgliedsstaaten, darunter Schweden und Frankreich, kündigten deshalb an, selbst Kriterien auszuarbeiten, falls die Kommission nicht endlich agiere. Schweden erhob 2014 Klage beim Europäischen Gerichtshof, der die Kommission im Dezember 2015 wegen ihrer Säumigkeit verurteilte. Im März des heurigen Jahres versicherte EU-Gesundheitskommissar Vytenis Adruikaits dem Umweltausschuss des EU-Parlaments, die Kommission werde noch vor dem Sommer Kriterien vorschlagen. Ein „hohes Niveau an Schutz für die menschliche Gesundheit und die Umwelt“ werde dabei das leitende Prinzip sein. Am 8. Juni forderte der Umweltausschuss die Kommission neuerlich auf, umgehend einen Kriterienkatalog festzulegen. Die österreichische EU-Parlamentarierin Karin Kadenbach kritisierte, es sei „untragbar, dass die Kommission weiter Unionsrecht verletzt und nach wie vor untätig ist“. Keinesfalls dürfe die Kommission der Chemieindustrie dabei zu weit entgegenkommen. Vielmehr müsse sie sich „endlich dazu bekennen, die Gesundheit der Bürger über die Profitinteressen einzelner Wirtschaftssektoren zu stellen“.

 

Weiter forschen

 

Mitte April waren 23 ausgewiesene Experten am BfR zusammengetroffen, wobei auch vier Beobachter der europäischen Chemikalienagentur ECHA sowie der Lebensmittelsicherheitsagentur EFSA anwesend waren. Konkrete Vorschläge für Kriterien ergaben sich auch dort nicht. Immerhin einigten sich die Experten darauf, dass es möglich ist, grundsätzliche Kriterien für die Indentifizierung endokriner Disruptoren festzulegen, obwohl unterschiedliche Ansichten hinsichtlich der Gefahrenbewertung bestehen. Anerkannt wurde die Definition der Weltgesundheitsorganisation WHO für endokrine Disruptoren. Ihr zufolge handelt es sich um „exogene Substanzen oder Gemische, die die Funktion(en) des Hormonsystems verändern und dadurch nachteilige Auswirkungen auf gesunde Organismen, deren Nachkommen oder (Sub-)Populationen haben“. Unbestritten war ferner, dass auch andere Substanzen Auswirkungen haben können, wie sie endokrinen Disruptoren zugeschrieben werden. Die Experten halten es daher für notwendig, gleichzeitig mit den Kriterien für endokrine Disruptoren international anerkannte Testmethoden für die Wirksamkeit der Stoffe festzulegen. Die hormonelle Wirksamkeit eines Stoffs allein reicht jedenfalls nicht aus, um diesen als „endokrinen Disruptor“ zu identifizieren. Erforderlich sind den Experten zufolge daher weitere Forschungen, unter anderem hinsichlich Expositionsszenarien, aber auch epidemologische Studien und die Erforschung der Wirkmechanismen auf molekularer Ebene.